Alle Menschen akzeptieren die Vorstellung, dass jegliche radioaktive Strahlung schädlich für uns ist! Alle? Nein, eine kleine Schar von Widerständlern behauptet sogar das Gegenteil. Demnach sollen geringe Strahlendosen positive Effekte haben und durch eine Art Impfmechanismus den Organismus vor Krebs schützen. Die Apologeten des so genannten Hormesis-Konzepts lassen grüßen.
Von Hormesis spricht man, wenn eine an sich schädliche Substanz in sehr geringer Dosierung eine positive Wirkung auf den Organismus entfaltet. Die Kurve der Dosis-Wirkungs-Beziehung verläuft also nicht kontinuierlich ansteigend sondern biphasisch.
Als Beispiele für hormetische Effekte werden etwa Impfungen genannt, bei denen eine geringe Menge an Krankheitserregern das Immunsystem stimuliert, oder physikalische Anwendungen (Kälte etc.), die den Organismus kräftigen.
In der Pharmakotherapie zeigen zum Beispiel Digitalis und Opium hormetische Dosis-Wirkungs-Beziehungen. Und was die Hormesis radioaktiver Strahlung anbelangt, so soll eine niedrigdosierte Exposition die DNA-Reparatur- und andere Mechanismen aktivieren und zwar sogar über den aktuellen Bedarf hinaus, sodass ein Schutz vor strahlungsbedingtem Krebs entsteht.
Anlässlich des Reaktorunglücks in Japan hat nun Ann Coulter, eine amerikanische Autorin, das Konzept wieder aufgegriffen. Aus ihrer Feder stammen unter anderem folgende Aussagen:
„With the terrible earthquake and resulting tsunami that have devastated Japan, the only good news is that anyone exposed to excess radiation from the nuclear power plants is now probably much less likely to get cancer. This only seems counterintuitive because of media hysteria for the past 20 years trying to convince Americans that radiation at any dose is bad. There is, however, burgeoning evidence that excess radiation operates as a sort of cancer vaccine. […]
[…]Tom Bethell, author of the ‘The Politically Incorrect Guide to Science’ has been writing for years about the beneficial effects of some radiation, or ‘hormesis’.“
Ann Coulter
Diese Statements haben ihr sogar zu einem Auftritt beim US-Sender Fox News verholfen. Das Video dazu findet sich hier.
Nun wird es sicherlich Interessensgruppen geben, die begeistert „Siehste, ist ja alles nicht so schlimm!“ ausrufen. Zum einen kann man dank der Hormesis einer geringgradigen Strahlenexposition sogar etwas Positives abgewinnen. Darüber hinaus impliziert das Konzept, dass es Grenzwerte gibt, bis zu denen eine Exposition zumindest unbedenklich ist. Allerdings hat die Sache einen Schönheitsfehler.
Die Idee der Strahlen-Hormesis negiert nämlich die stochastischen Effekte der Radioaktivität, also jene Wirkungen, die nur mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu fassen sind. Grundlage ist eine Veränderung der DNA. Die Wirkungen daraus – Mutation, Chromosomenaberration und Kanzerogenese – können bei jedem Menschen eintreten, sie müssen es aber nicht. Für stochastische Effekte gilt daher:
Ganz anders ist die Lage bei den so genannten deterministischen Strahleneffekten. Grundlage ist nicht die DNA-Veränderung, sondern der Zelltod mit nachfolgenden Wirkungen wie Erythem, Katarakt, Dermatitis, Ulkus, Organschäden etc. Für deterministische Effekte gilt:
Natürlich führen die Befürworter der Strahlen-Hormesis auch Studien an, die das Konzept stützen sollen. Das Bundesamt für Strahlenschutz BfS verweist aber darauf, dass für sichere Belege große epidemiologische Studien notwendig sind. Bislang hätten derartige Studien – ebenso wie experimentelle Untersuchungen – aber widersprüchliche Ergebnisse erbracht. Das BfS resümiert:
Daher werden die Befunde über eine stimulierende oder hormetische Wirkung kleiner Dosen von den wichtigsten internationalen Gremien, wie ICRP, BEIR und UNSCEAR nicht als hinreichend überzeugend angesehen, um von der Hypothese einer linearen Dosiswirkungsbeziehung ohne Schwellendosis im Strahlenschutz abzuweichen.
So spannend das Konzept der Hormesis ist – man sollte es nicht dazu missbrauchen, um Strahleneffekte zu beschönigen oder Grenzwerte zu ziehen, die vielleicht nur dazu dienen, den Ressourcenaufwand für den Strahlenschutz zu senken.
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